Was ist eine Zahl

Eigentlich habe ich ja einen gewissen Anspruch an mein kleines Blog über „Fraktale Welten“. Sicher, ich möchte hier auch schöne und eindrucksvolle Bilder transportieren. Aber ich möchte auch Interessierten die mathematischen Hintergründe dieser Bilder nahe legen, ohne dass sie sich an den „Rechenunterricht“ in der Schule erinnert fühlen, und ich hoffe, dass sich dadurch auch ein tieferes Verständnis entfalten kann.

Deshalb werde ich immer wieder ein paar Erklärungen zu mathematischen Begriffen und auch eher heitere, philosophische Gedanken zu diesen Begriffen an dieser Stelle veröffentlichen. „Richtige“ Mathematiker mögen mir meinen informalen Stil verzeihen und daran denken, dass es „da draußen“ auch jede Menge Menschen gibt, denen nichts so wenig vertraut ist wie der Aufbau einer streng deduktiven Wissenschaft.

Und heute will ich mich einem ganz einfachen Begriff widmen, der schon in kaum erwartete philosophische Tiefen führen kann:

Was ist eigentlich eine Zahl?

Die meisten Menschen verwechseln die Mathematik mit dem alltäglichen, in der Regel recht lästigen Rechnen. Das ist eine sehr beschränkte Sicht. Unter vielem anderen liefert uns die Mathematik allerdings auch Verfahren zum Rechnen. Bei der einfachsten Form des Rechnens werden aus Zahlen wiederum Zahlen ermittelt, und wenn man richtig gerechnet hat, kommen dabei auch die richtigen Zahlen heraus. Jeder Mensch, der mit einer beschränkten Menge Geld einkaufen geht und die Preise der Waren im Kopfe addiert, kann diese Aussage bestätigen; und auch die Erfahrung, dass man sich verrechnen kann, ist leider eine sehr alltägliche.

Fragt man einen „normalen“ Menschen, was denn aber nun eine Zahl sei, so glaubt fast jeder, das recht genau zu wissen. Aber kaum jemand kann es erklären. Mancher behilft sich denn, indem er eine Zahl in arabischen Ziffern aufschreibt und sagt, das sei eine Zahl. Das ist natürlich ein Irrtum, es handelt sich nur um ein Symbol, dass eine Zahl ausdrückt — der hinter dem Symbol stehende Zahlbegriff bleibt unsichtbar.

Zahlen sind nicht so „greifbar“ wie konkrete Gegenstände, die man an Hand ihrer erfahrbaren Eigenschaften erklären kann. Jeder kann einen Apfel erklären als eine grüne oder rote Frucht, die an Bäumen wächst, eine glatte Schale hat, einen „fruchtigen“ Duft ausströmt, von rundlicher Form ist, gut in der Hand liegt, manchmal Würmer enthält und im reifen Zustand recht lecker ist. Und auch ein Mensch, der noch nie einen Apfel gesehen hätte, würde auf Grund dieser Erklärung eine gewisse Vorstellung eines Apfels bekommen, könnte mit Hilfe einer wirklich guten Erklärung vielleicht sogar einen Apfel erkennen, wenn er ihn erstmals in seinem Leben sieht.

Eine solche Erklärung für den Begriff der Zahl würde hingegen den meisten Menschen schwer fallen. Das liegt daran, dass die Zahl eine abstrakte Vorstellung ist. Es ist nicht möglich, die abstrakte Vorstellung einer Zahl in die Hand zu nehmen, ihren Geruch festzustellen oder eine andere direkte Sinneswahrnehmung von ihr zu machen, und deshalb fällt es den meisten Menschen auch schwer, zu beschreiben, was eine Zahl ist.

Die Mathematik behilft sich mit einer ebenfalls abstrakten, mit einer streng formalen Definition des Zahlbegriffes über ein Axiomensystem. (Wer nicht weiß, was das ist: es wird in jedem guten Einführungswerk der formalen Logik oder der Mathematik erklärt. Für diesen Text würde es viel zu weit führen, den deduktiven Aufbau der Mathematik zu erklären.) An Hand dieser Definition ist eine wissenschaftliche Arbeit mit dem abstrakten Begriff der Zahl möglich. Würde ich einen Mathematiker fragen, was eine Zahl ist, denn würde er mir ein paar recht einfache Sätze zeigen und dazu sagen, eine Zahl sei eben das, was diese Sätze erfüllt. Mehr als gut genug für den Wissenschaftler, aber nicht gut für den „normalen“ Menschen, der einfach nur verstehen will, was eine Zahl ist.

Und es kommt noch etwas hinzu, was auch viele Mathematiker schnell aus den Augen verlieren können: Menschen sind schon mit dem Begriff der Zahl umgegangen, lange bevor sie ein solches wissenschaftlich einwandfreies System zur Verfügung hatten. Was von der mathematischen Wissenschaft vollbracht wurde, war nicht etwa die Erfindung der Zahl, sondern die handhabbare Beschreibung eines abstrakten Begriffes, der bereits vorhanden war und im menschlichen Alltag arglos und sinnvoll als etwas Gegebenes verwendet wurde. Das macht die wissenschaftliche Leistung allerdings kein bisschen geringer, viele Erkenntnisse wären ohne diesen Schritt nicht möglich gewesen. Und einige von diesen Erkenntnissen haben sogar eine konkrete, alltägliche Bedeutung — sie sitzen jetzt zum Beispiel an einem Computer, der auf Grundlage solcher Erkenntnisse entworfen und gebaut wurde.

Wahrnehmung

Wenn die Zahl aber in vorwissenschaftlichen Zeiten „schon vorhanden“ war, denn muss sie etwas beschreiben, was Menschen in ihrer Umwelt wahrnehmen. So abstrakt der Begriff der Zahl ist, er muss mit einer konkreten Erfahrung verbunden sein, die der Wahrnehmung offen liegt und damit einer naiven Erklärung fähig ist. Es scheint also doch eine Möglichkeit zu geben, sich dem Zahlbegriff zu nähern, ohne dass hierfür „richtige“ Mathematik betrieben werden muss. Dafür lässt sich etwas über die menschliche Wahrnehmung lernen. Wer alles Mathematische verabscheut, kann sich darüber freuen — aber nicht zu früh freuen, denn es bleibt abstrakt.

Offenbar fasst die Wahrnehmung der Menschen Objekte der Umwelt in Gruppen zusammen. Das zeigt sich darin, dass Klassen ähnlicher Objekte einen „Gattungsnamen“ bekommen. So sprechen Menschen etwa von „Bäumen“, „Stühlen“ oder „Tassen“; sie fassen in diesen Begriffen, denen mentale Vorstellungen zu Grunde liegen, verschiedene einzelne Objekte zu einer Klasse zusammen. Diese Eigenart der menschlichen Wahrnehmung hat übrigens auch einen mathematischen Begriff hervor gebracht, nämlich den Begriff der „Menge“.

Bei diesem Vorgang der Wahrnehmung werden also unterscheidbare Objekte zusammengefasst. Und dabei entsteht in der Wahrnehmung etwas, was die so zusammengefassten Objekte an sich nicht haben: eine Anzahl. Eine Tasse ist deutlich von einem Baum unterschieden. Aber eine Zusammenfassung von fünf Bäumen hat eine gemeinsame Eigenschaft mit einer Zusammenfassung von fünf Tassen, und zwar die „Fünfigkeit“ dieser Zusammenfassung. Diese „Fünfigkeit“ der Anzahl einer Gruppe von Objekten wird als gemeinsame Eigenschaft aller Zusammenfassungen von fünf Objekten wahrgenommen und im Begriff der „Fünf“ zum Ausdruck gebracht. Da stehen Tassen. Wie viele sind es? Es sind fünf Tassen.

Der Zahlbegriff entsteht allein durch diese Eigenart der menschlichen Wahrnehmung, es ist deshalb nicht einmal sicher zu sagen, ob dem Begriff der Zahl eine Realität außerhalb dieser Wahrnehmung zuzusprechen ist.

So betrachtet ist der Begriff der Zahl — der doch als „rein wissenschaftlicher“ Begriff außerhalb jeden Zweifels stehen sollte — plötzlich sehr unsicher geworden. Viele Menschen in der heutigen Zeit würden den Begriff eines „Gottes“ mit guten Argumenten anzweifeln, müssten aber dennoch feststellen, dass mit diesem Begriff etwas ausgedrückt wird, was Menschen wahrnehmen. Dass die Psychoanalyse mit einer erschreckenden Leichtigkeit nachweisen konnte und kann, dass es sich beim Gottesbegriff um eine Projektion handelt, in der sich die rein psychischen Konstruktionen des Überich und der verinnerlichten Sexualunterdrückung durch die Eltern überlagern, macht eine physikalische Realität des Gottesbegriffes in besonderer Weise fragwürdig; es ändert aber nichts an der psychischen Realität, die immer wieder Schönes und leider viel häufiger Furchtbares in der menschlichen Gesellschaft hervorbringt. Und doch haben Menschen mit diesem Gottesbegriff eine äußerst penible Wissenschaft betrieben, die Theologie, und sie tun dies bis heute. Und mit Hilfe dieser Wissenschaft haben sie „Wissen geschaffen“, indem sie Aussagen über die „Beschaffenheit“ Gottes ableiteten.

Es könnte durchaus sein, dass die Grundlagen der mathematischen Wissenschaft genauso fragwürdig sind. Dass alle modernen Gesellschaften dem Zahlbegriffe eine derartige Wirklichkeit zusprechen, dass sie alles in Zahlen fassen wollen, widerspricht einem solchen Zweifel nur scheinbar. Noch vor gar nicht langer Zeit, vor der so genannten „Aufklärung“, war der Gottesbegriff in gleicher Weise gesellschaftsprägend und wurde nur von wenigen scharfen Denkern in Zweifel gezogen. Man hat genau so mit der Existenz und dem Eingreifen Gottes in den Weltenlauf „gerechnet“, wie man heute mit Zahlen rechnet.

Die mathematische Wissenschaft bekümmert sich im Alltagsbetrieb nicht um solche trüben Gedanken über ihre Grundsätze. Man geht pragmatisch vor und erzeugt eine Ausbreitung des „Wissens“, ob dieses Wissen nun Wirklichkeit widerspiegelt oder nicht. Die Beflissenheit dieses Tuns ist völlig wertneutral.

Immerhin, man kann mit einem Teil dieser Ergebnisse hübsche Fraktale erzeugen… 😀

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Über 124c41

Gaga singt Dada aus der Statt der tausend Dröhne. Ein marginalisierter macht merglig kunst aus künstlich wohrten. Sieben schnabel überdruss.

18 Kommentare zu “Was ist eine Zahl

  1. […] Fraktale Welten: Was ist eigentlich eine Zahl? […]

  2. cassiel sagt:

    Die Basis der Mathematik wurde bereits von G J Chatin
    http://www.cs.auckland.ac.nz/CDMTCS/chaitin/
    erschüttert. Auf einmal droht die Mathematik oder zumindest ihr größerer Teil sich in reinem Zufall aufzulösen.

    Und hinsichtlich der Subjektivität der Welt empfehle ich Heinz v. Foerster, der auch einmal gesagt hat „2 x 2 ist grün“. Lesenswert sein Buch „Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners“.

    Nur nebenbei zum allgemeinen Thema dieses Blogs: die Welt ist ein fraktales Abbild des Zufalls.

  3. […] Die Frage, was eine Zahl denn überhaupt sei, habe ich ja schon in einem vergnüglichen Artikel behandelt. Jetzt geht es in die technischen Feinheiten. […]

  4. Audrey sagt:

    Hallo

    Ich möchte gerne wissen, wer den Text ‚Was ist eine Zahl‘ geschrieben hat. Da ich gerne diesen Text als Quelle für meine akademische Diplomarbeit benutzen möchte, brauche ich den Vor – und Nachname des Autors. Vielen Dank im Voraus.

    Mit freundlichen Grüßen

    Audrey

  5. 124c41 sagt:

    Zu Audrey: Der gesamte Text stammt von mir. Und mein Name ist Elias Schwerdtfeger.

    Es ist eine recht unerwartete Ehre für mich, wenn ich in einer Diplomarbeit auftauche… 😉

  6. […] ist es die unreflektierte Intuition über einen abstrakten Gegenstand, die fehlerhaft ist. Die unsinnliche Beschaffenheit des abstrakten Gegenstandes führt zu unsinngen Beschaffenheit der […]

  7. der nigger sagt:

    ihr seit alles behinderte arschgeburten

  8. […] darüber klar sind, dass die Mathematik keineswegs aus sich selbst heraus objektiv ist, sondern den Möglichkeiten und Einschränkungen der menschlichen Fähigkeit zur Wahrnehmung enthüpft ist und somit die Strukturen des menschlichen Wahrnehmens in stark formalisierter (und oft sehr […]

  9. from sagt:

    bei all dem sollten die im 19. Jhd. erstmals formal sauberen Abhandlungen zu dieser Frage beachtet werden. Besonders zu empfehlen: Richard Dedekind (1831 – 1916), Was sind und was sollen die Zahlen (1888).

  10. from sagt:

    PS: und natürlich auch das kleine Büchlein von Gottlob Frege „Grundlagen der Arithmetik“ (1884), das sich rein umgangssprachlich und sehr tiefgehend mit dem Begriff „Zahl“ auseinandersetzt.

    In seinem Buch „Grundgesetze der Arithmetik“ (1893)wird die Definition „Zahl“ in formaler Weise ausgeführt.

    Frege glaubte, die gesamte Mathematik auf die Logik zurückführen zu können (was leider wegen prinzipieller Widersprüche misslang).

    In dem letztgenannten Buch führte Frege mit seinem Formalismus übrigens erstmalig die Prädikatenlogik erster und zweiter Ordnung ein (allerdings unterscheidet sich der von Frege entwickelte zweidimensionale Formalismus erheblich von der heute verwendeten Notation).

  11. Mathematiker sagt:

    Naja, man sollte vielleicht nicht Theologie als Wissenschaft bezeichnen…
    und sie mit Mathematik zu vergleichen ist eine Beleidigung fuer die Mathematik 🙂
    aber sonst ist es ein ganz netter Artikel…

  12. from sagt:

    Eigentlich in überflüssiger Artikel, da mal wieder jemand seine Intuition hat ins Kraut schießen lassen, ohne auch nur eine Vorstellung von der bisher geleisteten Arbeit und Ergebnissen zu haben (siehe die bereits oben erwähnten Arbeiten aus dem 19. Jhd.) – mal wieder einfach drauf los philosophiert …

    Das hilft niemanden! Im Gegenteil, andere Laien werden sogar noch in die Irre geführt! Nun will ja sogar jemand dieses Textchen in seiner Diplomarbeit zitieren …

    Schuster, bleibt bei Euren Leisten!

  13. ein gläubiger physiker sagt:

    Die Gottesfrage auf ein rational oder psychologisch lösbares Problem zurückzuführen, vergreift sich eindeutig an der Kompetenz der Naturwissenschaft, die ausschließlich deskriptiven Charakter hat. Sowie sich Glaube nicht in die Wissenschaft drängen sollte, muss es auch auf anderem Wege gelten. Auf den naiven Zahlenbegriff bezogen ist es darüberhinaus für einen menschlichen Geist nicht nachvollziehbar was hinter seinen Grenzen liegt. Ob das Verständnis einer Zahl durch den Menschen erlangt wird oder über ihn hinausgeht ist nicht erfassbar.

  14. lacerta sagt:

    Danke für diesen kurzen Text.

  15. Thomas Yaarmuk sagt:

    …also, schon merkwürdig der Vergleich zwischen Gott und Zahl. Und noch bedenklicher ist die unhaltbare Behauptung, dass „Gott“ eine aus der Psyche resultierende Projektion eines Über-Ichs sei, die angeblich die Psychoanalyse bewiesen hätte.

    Mangelnde religiöse Bildung ist leider heute ein weitverbreitetes Phänomen – vielen ist Transzendenz fremd, und so merken sie nicht, dass sie Produkt, besser Kinder eines bestimmten Zeitgeistes sind. Hielten sich nicht die damaligen Ägypter für hoch entwickelt? Und die Griechen, die Römer und das heutige Europa?

    Wie heißt es so schön: die Wahrheiten der Wissenschaften von heute sind die Irrtümer der Wissenschaften von morgen!!!

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